Leben ohne Feindbild

Mein Feindbild ist mein Eigentum

Als Jugendlicher gehörten Feindbilder zu meinem Leben dazu: die 1980er waren noch vom kalten Krieg bestimmt. Auch im Kleinen gab es welche: andere Jugendkulturen und überhaupt alle die die falsche Musik hörten. Mit zunehmender Reife wurden Feindbilder immer schwächer und abstrakter: das „mechanistische Marketing“ etwa. Meine frühen Bücher „Das Anti-CRM-Buch“ (2004) und „Souveräne Markenführung“ (2010) sind noch durch ein Freund-Feind- bzw. Richtig-Falsch-Denken geprägt, selbst wenn es längst nicht mehr gegen Menschen sondern „gegen“ Überzeugungen und Haltungen ging. Grundtenor: Der Mensch ist gut, er muss nur an das Richtige glauben. Aus solch einer Einstellung erwächst jedoch – konsequent ausgelebt – ideologischer oder religiöser Fanatismus.

Banker as a devil, with golden horns

Noch im Veröffentlichungsjahr von „Souveräne Markenführung“ traf ich einen Coach, der mich mit taoistisch-buddhistischer Unternehmensführung in Kontakt brachte. Ich begann zu meditieren und auf der erfahrungsmäßigen Ebene zu begreifen, dass ein Feindbild das Spiegelbild des Selbst ist. Seit dem übe ich mich darin, Feindbilder loszulassen sobald ich sie entdecke: und zwar in mir. Seit dem treffe ich immer mehr Menschen, die das ganz ähnlich handhaben.

Seit 2015 beobachte ich auf Facebook – die Kommentare auf YouTube sehe ich mir gar nicht mehr an – wie sich wieder Feindbilder manifestieren: Hier der Faschist, dort der „linksversiffte Gutmensch“. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben. Es bedarf enormer Disziplin, auf Beleidigungen und mordlüsternde Beschimpfungen beschwichtigend oder besser gar nicht zu reagieren.

Welche Funktion erfüllt ein Feindbild?

Ein Feindbild dient vor allem als Projektionsfläche für alles was wir ablehnen. Die Welt besteht aus Polarität und in dem wir uns der Illusion hingeben, wir hätten alles Gute (wahlweise: Richtige, Erfolgreiche) in uns, verweisen wir alle Gegenteile nach Außen: auf den Autofahrer vor uns, Prenzlauer-Berg-Schwaben, das Kapital, die Regierung, ganze Völker, Religionen, Reptiloiden, Illuminaten oder Voodoo-Puppen.

Wer nicht ausprobiert hat, ohne Feindbild zu leben, kann nicht begreifen, dass es überhaupt möglich ist. Das Feindbild gehört ja zur Identität. Damit entspricht ein Mensch durch die radikalisierte Pflege der Polarität dem Gesetz der Ganzheit. Als Preis für das Loslassen eines Feindbildes wird die Aufgabe der eigenen Identität befürchtet. Tatsächlich ist es das. Aber der Preis wird mit unbezahlbar höherer Lebensqualität belohnt.

Das Ego will Recht haben

Das bockige Kleinkind stampft mit dem Fuß auf den Boden… Vorsicht! Hat sich in diesen Text nicht eben der Rechthaber eingeschlichen, ein Oberlehrer der sagen will: „Ich bin ein weiser Mann, der keine Feindbilder hat“ und das als überlegendes Lebenskonzept verkauft? Ist das nicht Manipulation mit dem Versprechen höherer Lebensqualität? Ja, das ist es.

Eine Bitte: Erhebe nicht den Anspruch „der Schlauste“ zu sein, derjenige, der – wenn es schlimmer kommt als erhofft – sagen kann „seht Ihr, ich hab’s von vornherein gewusst. Ich hatte Recht!“

Frage dich, was bewirkst du mit einer Kommunikation des Misstrauens gegenüber anderen? Machst Du die Welt dadurch friedlicher? Der Glaube an das Gute im Menschen dient der Menschheit mehr, selbst wenn er enttäuscht wird, als der Glaube dass das Böse dominiert. Denn das worauf Du fokussierst, verstärkst Du.

Sei Gestalter der Welt. Nicht ein Beobachter, der Recht haben will!

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