Mein Problem mit der Zielgruppe

Um gleich ein Missverständnis aus dem Weg zu räumen: Ich habe kein Problem mit meiner Zielgruppe. Ich hatte aber zwanzig Jahre lang ein Problem mit dem Begriff „Zielgruppe“ und das möchte ich hier (auf-)klären.

Wir schreiben das Jahr 1997. Ich hatte mich bereits entschieden, das Studium der Wirtschaftskommunikation aufzunehmen, nachdem ich – eher hemdsärmelig – im Marketing tätig war: Veranstaltungsorganisation und -bewerbung in den Medien, Pressemeldungen, Vertriebstätigkeiten im Außendienst und in Call Centern. Ich hatte das Bedürfnis, mich gehörig auf das Studium vorzubereiten und so laß ich die Zeitschrift w&v (Werben und Verkaufen), das damals gerade frisch herausgegebene, inzwischen wieder eingestellte Magazin aus demselben Verlag „Media&Marketing“ sowie diverse Handbücher für Marketing und Verkaufen. Die Entdeckung der Zielgruppe im Allgemeinen war zuerst ein Erweckungserlebnis für mich: „Man muss nicht allen gefallen“ und was meinem Weltbild besonders gelegen kam: „Die Menschen sind nicht alle gleich und haben daher auch unterschiedliche Vorlieben und Bedürfnisse.“ So erklärte sich auch, warum ich auf ein Großteil der Werbeofferten mit Aversion reagierte. „Ich bin eben nicht die Zielgruppe.“ Punkt.

Gleich in den ersten Tagen meines Studiums dann das: ein äußerst inspirierender Professor skandierte von vorne „Vergessen Sie die Zielgruppe… wenn das alles stimmen würde, was in den Marketinglehrbüchern steht, warum sind dann nicht alle Firmen erfolgreich?“ Das hat gesessen, löste es doch einen schon länger in mir gärenden Widerspruch auf: Seinerzeit „genoss“ ich Marketingbücher abends im Bett als Einschlaflektüre. Sie wirkten prompt. Einschläfernd. Gut für den gesunden Schlaf, aber sehr ernüchternd als Ausblick auf mein Studium, erwartete ich doch Spannung und Inspiration statt die einschläfernde normative Systematik der Betriebswirtschaftslehre.

Dann ein Zeitungsartikel über Trendforscher: Matthias Horx, Peter Wippermann und Gerd Gerken. Von letztgenannten fiel mir wenig später ein schon etwas älteres Buch in der Bibliothek in die Hände: „Abschied vom Marketing“. Fand ich toll. Und „Es gibt keine Zielgruppen mehr.“ Noch besser.

Fortan wurde ich zum fanatischen Bekämpfer der Zielgruppenphilosophie. Jede Medientheorie, der radikale Konstruktivismus, Maturanas Erkenntnisbiologie und Luhmanns soziologische Systemtheorie wurden als Beweismaterial für meine These herbeigesammelt, dass das Zielgruppendenken veraltet, weil es mechanistisch und statisch sei und damit über kurz oder lang zum unternehmerischen Scheitern verurteilt sein wird.

Heute frage ich mich, was mich wirklich vom Zielgruppendenken abgestoßen hat, nachdem es mich zuerst durchaus faszinierte? Zwischenfazit: Menschen werden zum Objekt der Manipulation gemacht und das (ältere, von Werner Kroeber-Riel geprägte) Marketing rechnet mit der beschränkten Selbstbestimmtheit des Menschen, schlimmer noch: es stellt auf den Anteil der Fremdbestimmtheit ab. Gute Nachrichten für den Manipulator. Zeitgeistiges Neuromarketing kann genauso gelesen werden, oder aber auch die vermeintliche Allmacht des Manipulators in Abrede stellen – womit ich wieder bereit bin, mich mit dem Marketing und seiner Zielgruppendenke zu versöhnen.

Kurzum, ich habe mich emotional bereits 2002 zum Abschluss meines Studiums mit dem klassischen BWL-Marketing versöhnt und während meiner unternehmerischen Tätigkeit spätestens während meiner Auseinandersetzung mit der EKS das Konstrukt Zielgruppe in meine eigene Tätigkeit wieder aufgenommen.

Heute gehört es zu den häufigsten Aha-Erlebnissen meiner Kunden, wenn sie erkennen, dass eine Zielgruppe keine statische (oder statistische) Beschreibung von Dateninhabern demographischer Merkmale ist, sondern temporär fluide Zusammenkünfte akuter spezifischer Bedürfnisse.

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